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Der Löwe ist los

in Kindergeschichten 06.03.2013 18:59
von Hedda • 10 Beiträge

Der Löwe ist los!

Es gibt da eine kleine Stadt, die trägt den Namen Löwenburg. Die Leute erzählen allerlei Geschichten, wie ihr Städtchen zu seinem großen Namen kam, aber keiner weiß es so richtig. Zur Zeit des Ereignisses, über das ich erzählen möchte, besteht eine gewisse Berechtigung – noch. Und das ist so: Vor etlichen Jahren gründete hier ein wohlhabender, schon etwas älterer Liebhaber exotischer Tiere einen beträchtlich großen Zoo, dessen Glanzstück in der Tat ein mächtiger Löwe ist, genannt Rex, der rechte Name für den König der Tiere. Im Laufe der Zeit und mit dem Schwinden der Lebenskräfte des alten Herrn gab es auch den Schwund im Tierbestand: So erfreut man sich heutzutage nur noch an Jolanthe, der Warzenschweindame, Toni, dem Äffchen und Rex, dem Löwen, dessen Mächtigkeit allerdings nur noch äußerlich an seiner stattlichen Größe und seiner großartigen, aber grauen Mähne zu erkennen ist. Und nun leben die drei betagten Exoten trotz ihrer Verschiedenartigkeit in träger Eintracht zusammen, gehegt und gepflegt von Menschen, die sie noch lange am Leben wissen möchten.
Wichtig für meine Geschichte ist da außerdem noch ein kleines Dorf, nicht weit vom Städtchen entfernt mit Bürgermeister und Pfarrer, einem kleinen Laden und der Kirche mitten im Dorf. Es geht recht friedlich zu im Örtchen – der Pfarrer ist ein gutmütiger Seelenhirte, der sich liebevoll um seine Schäfchen kümmert. Der Bürgermeister, sich seiner Macht wohl bewusst, regiert mit erhobenem Zeigefinger den kleinen Sünden bäuerlicher Schlitzohren gegenüber, wobei er die eigenen Unzulänglichkeiten gerne als ihm zustehende Privilegien deutet. Für den braven Pfaffen, dessen Domizil in nachbarschaftlicher Nähe liegt, gibt es demnach so manches Ärgernis, das der friedliebende Mann zwar redlich zu verdrängen sucht, aber ihn auch hin und wieder zu wenig frommen Gedanken zwingt. Eine Plage ist die regelmäßige Rasenpflege, die in diesem feuchtwarmen Sommer durch die Häufigkeit einen wahren Missbrauch der pfarrerlichen Nerven bedeutet. Es handelt sich nämlich nicht um einen geräuscharmen modernen Elektromäher – nein, der Bürgermeister verrichtet seine Arbeit mit einem ordentlichen Erbstück seiner Vorfahren, das mit ohrenbetäubendem Lärm in Bewegung gesetzt wird, und obendrein mit seinem Benzingestank jeden Schweinestall im Duft übertrumpft. Aber wer den Frieden mit dem Nachbarn liebt, muss eben manchmal leiden; Pfarrer Bolte macht in solchen Zeiten dann einen kleinen Ausflug auf seinem alten Drahtesel in Gottes schöne Natur, bis das Schrecknis ein Ende hat.

Heute nun ist es wieder einmal so weit: Unser Pfarrer schwingt sich auf sein Ausflugsutensil und trampelt los. Er trägt vorbildlich einen Fahrradhelm, der ihm bis über die Ohren geht; er hat ihn aus Sparsamkeitsgründen gebraucht gekauft hat, und so ist er ein wenig zu groß; aber das hat ihn vermutlich schon einmal vor einem größeren Schaden bewahrt: Ein auf dem Feldweg zwischen Stadt und Dorf daher bretternder Landrover streifte ihn mit seinem Seitenspiegel, zwar nur leicht, aber doch schwer genug, um ihm das Balancieren zu erschweren. So plumpste Pfarrer Bolte vom Rad auf sein zum Glück behelmtes Haupt und stand ächzend, aber wohlbehalten wieder auf. Der unmoralische Autofahrer wurde zur Verdammnis verurteilt.
Aber nun zurück zur Gegenwart: Es ist ein wunderbarer sonniger Sommertag, so richtig gemacht für Pfarrers Trip. Außerdem fällt ihm ein, dass er wohl nach seiner Rückkehr auf die lieb gewonnene Tasse Kaffee am Nachmittag verzichten muss; der Kaffee ist alle – seine Haushälterin hat vergessen, Neuen zu besorgen, und der kleine Dorfladen hat heute wegen einer Familienfeier geschlossen. Aber er nimmt seiner treuen Perle das kleine Versäumnis nicht übel, dafür hat sie heute Mittag einen saftigen Braten mit köstlicher Sauce auf den Tisch gebracht. So wählt er den kurzen Weg in die Stadt, da wird er wohl das fehlende Lebenselixier kaufen können. Doch er kommt nicht weit, und das geht so:
Auch im Löwenburger Zoo spürt man in den alten Knochen den herrlichen Sonnenschein. Das Gelände ist zwar umzäunt, teilweise mit einfachem Blumendraht geflickt, aber der Pfleger nimmt's tagsüber nicht immer so genau. Er weiß, dass seine Pfleglinge sich nach kleinen ungefährlichen Ausflügen schnell und gerne wieder in ihr kleines Seniorenheim zurückbegeben. So steht auch heute wieder einmal das Törchen offen, und in des Löwen Herz setzt sich der selten gewordene Freiheitsdrang durch und das Tier in Bewegung. Toni bleibt lieber im Geäst seines Baumes hängen, Jolanthe suhlt sich genüsslich in der Sonne. Rex wählt den erstbesten Weg in die Natur, und das ist genau der, der vom Städtchen zum kleinen Dorf führt. So kommt's, wie's kommen muss, zu einer seltsamen Begegnung! Die Verwunderung liegt eigentlich nur beim Pfarrer, den Löwen berührt's nicht sonderlich: ein Mensch in schwarzem Kittel, was soll's!
Aber Pfarrer Bolte weiß nicht so recht, er kennt das Tier aus dem Zoo – aber ganz geheuer ist es ihm nicht. Ein vorsichtiger Rückzug ist vielleicht besser, zumal er noch weit genug entfernt ist? Gesagt, getan – betont ruhig und beherrscht machen Fahrrad und Mann die Kehrtwendung. Rex jedoch setzt seinen Weg unbeirrt fort, sein Spaziergang ist noch nicht zu Ende. Und dann geschieht's – vielleicht hervorgerufen durch die warme Sonne – ihn packt der Übermut, der längst vergessene Jagdtrieb erwacht. Warum verschwindet der Mann denn nun so rasch? Man könnte ja mal ausprobieren, wie schnell man selbst noch laufen kann – und es geht! In beachtlichem Tempo sprintet er hinter dem her, der schnurstracks auf sein Haus und somit auch Nachbars Garten zu-steuert. Letzterer ist noch immer bei der Arbeit mit seiner Höllenmaschine, und ein eiliger Gedanke kommt dem Pfarrer: vielleicht trollt sich das wilde Geschöpf bei diesem fürchterlichen Lärm. Aber er irrt sich – Rex stört sich keineswegs daran, ist er doch obendrein durch sein hohes Alter recht taub geworden. Im Gegenteil – er pirscht sich neugierig an den Beschäftigten heran – was macht der Kerl da bloß? Der sieht und hört nichts von den Ankömmlingen, beschäftigt, wie er ist. Aber irgendwie spürt er, dass sich da hinter seinem Rücken etwas getan hat. Er dreht sich um, erbleicht, fällt um, und genau auf sein Gartengerät, das durch den Aufprall des schweren Körpers ebenfalls verstummt. Na nu, was ist das? Rex wundert sich. Er will doch gar nichts von dem Mann – Fleisch kann er sowieso nicht mehr kauen mit seinen alten Zähnen, und Menschenfleisch schon gar nicht, zumal dieses hier ihm auch recht zäh und trocken erscheint. Breitbeinig steht er vor dem unglücklich Liegenden und blickt in das vor Angst verzerrte Gesicht. „Na komm schon – ich tu Dir ja nichts“ denkt das Tier, schüttelt die wüste graue Mähne, hebt die große Tatze, zieht die Krallen ein und streicht dem Ängstlichen sanft über's Haar. Diese Liebkosung wird jedoch falsch verstanden, ganz falsch – es scheint, als täte Pfarrers Nachbar den letzten Atemzug – er versinkt in Ohnmacht! Aber wo ist unser Pfarrer? Das ganze Ereignis ging in so kurz aufeinanderfolgender Weise vor sich, dass er eigentlich keinen klaren Gedanken fassen konnte, aber sein Instinkt setzt unbeschädigt ein: Wie war das noch mit dem Braten heute Mittag – vielleicht war das ein gutes Mittel, den Nachbarn aus der tödlichen Gefahr zu retten, wenn den nicht schon der Schlag getroffen hat!! Ach du Schreck, das Fleisch ist ja ratzekahl weggeputzt – jedoch der Herr ist gnädig – ein voller Topf der köstlichen Sauce wartet noch auf einen Geniesser! Und siehe da – Pfarrrer Bolte trifft ins Schwarze! Schon der Duft verlockt Rex zum Ablassen seiner Liebkosungen, und mit Wonne schlappt er die Köstlichkeit bis auf den letzten Tropfen aus. Damit ist aber auch sein Interesse an den Ereignissen des heutigen Ausflugs erloschen: Ein genüsslicher Rülpser – er hat ein wenig gierig geschluckt – und sodann trottet er gemächlich den Weg zurück ins heimatliche Gehege. Der Pfaffe stellt erleichtert fest, dass der Nachbar wieder auf die Füße kommt, etwas benommen, aber unbeschädigt. Schuldbewusst sendet der fromme Mann ein Stoßgebet zum Himmel, hatte er doch beim Niedergang seines Nachbarn den frevelhaften Gedanken gehabt, die unangenehme Angelegenheit gehöre nun durch diesen Schicksalsschlag für immer der Vergangenheit an:. „Aber Herr, das war wirklich nur flüchtig gedacht, nur herausgerutscht und nicht wirklich gewollt.“ Es wird ihm verziehen, der Herr ist sogar sehr gnädig, denn das schreckliche Erbstück der, der Rasenmäher hat in der Tat unwiderruflich den Geist aufgegeben.

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