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Der Fliederbaum

in Romantik 06.03.2013 19:06
von Hedda • 10 Beiträge

Der Fliederbaum.

Am Rande einer kleinen Ortschaft, umgeben von Wiesen und Feldern, stand ein Fliederbaum. Im Sommer entfaltete er eine leuchtend violette Blütenpracht, die einen betörenden Duft verströmte. Viel Leben umgab ihn am Tag und auch am Abend.
Kinder tollten und lärmten in den Wiesen, lachten und stritten miteinander, plätscherten im kleinen Bach und bespritzten sich gegenseitig, und auch er bekam mitunter ein wenig ab von dem kühlen Nass zu seiner Erfrischung. Wenn wilde Knaben versuchten, in seinen Zweigen herumzukraxeln, tat ihm das weh, dann ließ er ein leises Knarren vernehmen, und die Jungen verließen schleunigst das Geäst aus Furcht vor dem Herunterpurzeln. Spaziergänger, junge und alte, Wanderer mit weiterem Ziel bewunderten seine Pracht, zogen den Duft genüsslich ein und ruhten aus auf der Bank unter seinen Zweigen. Gegen Abend, wenn die Sonne die Erde langsam verließ, fand sich die heran-wachsende Jugend ein, um zu scherzen und zu diskutieren, und manche junge Liebe wurde entdeckt und vielleicht auch besiegelt.
Viel hätte der Baum zu berichten, könnte er sprechen. Eine Geschichte könnte er erzählen, die ihren Anfang unter seinen Zweigen nahm, und erst nach vielen Jahren ein Ende finden sollte.
Inga und Felix begegneten sich zum ersten Mal beim abendlichen Jugendtreff am Fliederbaum. Felix war ein flotter Bursche, für den alle Mädchen schwärmten; das machte ihn zum Luftikus, der öfters mal seine Zuneigung wechselte, es gab ja so viele unter den Hübschen, die ihn umgarnten. Doch Inga hatte es ihm endgültig angetan; er war verzaubert von ihren Augen, denn sie strahlten in dem gleichen Violett der wundervollen Fliederblüten. Und so verliebte er sich zum ersten Mal ernsthaft. Viele Male konnte unser Baum das Glück der jungen Leute miterleben, die für immer zusammenbleiben wollten und Pläne für die Zukunft schmiedeten. Doch sie wussten auch, dass eine Berufsausbildung auf sie wartete, die zumindest nicht für Felix in diesem Ort möglich war.
So kam die Trennung, da die Familie, auch aus beruflichen Gründen des Vaters fortzog, wo Felix ebenfalls seine Studien- und Berufswünsche verwirklichen konnte. Zum letzten Mal saß das Paar unter seinem Fliederbaum, traurig, aber mit dem Schwur, sich treu zu bleiben und sich so oft wie möglich wiederzusehen. Doch trotz sehnsüchtiger Wünsche wurde das Wiedersehen immer wieder verschoben und blieb zuletzt ganz aus, obwohl die Entfernung nicht allzu groß war und sie kein Hindernis darstellte. Doch die Beschäftigung mit Ausbildung und neuem Umfeld bei beiden gleichermaßen tat ein Übriges.
Die Zeit verging rasch, ohne dass Felix es so recht bemerkte. Er war eingespannt mit dem Aufbau seines Lebens, mit Beruf und Familie. Selten fand er einmal Zeit und Muße, über sein bisheriges Leben und die Vergangenheit nachzudenken. Doch vergessen hatte er Inga nicht und die violetten Augen; er hatte bei der Gestaltung seines Gartens in einem Anfall von Wehmut und Sehnsucht nach seiner Jugendzeit als Zugeständnis daran einen Fliederbaum pflanzen lassen, mit violetten Blüten und herrlichem Duft.
Er hatte Glück, er hatte Pech. Beruflich war ihm der Erfolg sicher. Seine Ehe wurde geschieden, und er lebte die letzten Jahre bis zu seiner Pensionierung allein in seinem großen Haus, bis dann seine Tochter mit ihrer Familie zu ihm zog. Dann kam Ruhe in sein Leben. Er sah seine Enkel heranwachsen, hatte seine Hobbies und arbeitete gern in seinem schönen Garten. Mit seiner Ge-sundheit konnte er zufrieden sein, sodass er auch älter werdend noch einiges unternehmen konnte.
Und so kam es, dass er eines Tages, als er wieder einmal sinnend unter seinem Fliederbaum saß, mit seltsamer Ungeduld beschloss, seine frühere Heimat aufzusuchen. Nun hatte er ja Zeit.
Im Sommer machte er sich auf, wusste aber eigentlich zuerst nicht, wohin er sich wenden sollte im Ort, denn Verwandte und Bekannte gab es für ihn dort nicht mehr – außer vielleicht ein paar Schulkameraden. Aber sie, Inga – wo würde sie wohl jetzt sein, dachte er wehmütig? Jedoch es bedurfte keiner großen Überlegung, getragen von seiner Erinnerung zog es ihn zum Fliederbaum. Da stand er noch in voller Blüte, schon von weitem genoss er den Duft. Doch er sollte nicht allein sein, eine Gestalt saß still auf der Bank, eine Frau blickte auf, als er näher kam – wie ein Blitz durchfuhr es ihn! Violette Augen, strahlend wie eh und je im gealterten Gesicht. Doch er sah die Falten nicht: „Ina“, und sie flüsterte erstaunt: „Feli“, so hatte sie ihn früher genannt! Und er setzte sich neben sie und fühlte sich so unglaublich glücklich, als habe er ein lang ersehntes Zuhause erreicht.
Nach dem ersten gegenseitigen Bestaunen erzählten sie über ihr Leben. Inga war im Heimatort geblieben, hatte geheiratet und Kinder bekommen; ihr Mann lebte nicht mehr, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auch sie hatte Felix nie vergessen und war oft zum Fliederbaum gegangen, in letzter Zeit fast jeden Tag. Sie gestand, dass sie ein unbestimmtes Gefühl getrieben habe, als würde er eines Tages wiederkommen, als wäre ihre Geschichte noch nicht zu Ende. Sie beschlossen, sich nun jedes Jahr zur Fliederblüte hier zu treffen.
Und so geschah es, es wurden ihnen noch viele Jahre geschenkt, in denen sie sich trafen. Mal plauderten sie über ihr jetziges Leben, mal schwelgten sie in der Vergangenheit, aber Liebe und Verständnis für einander waren immer dabei. Sie genossen ihr Glück miteinander in der Reife des Alters so intensiv, wie sie es nie in jüngeren Jahren hätten spüren können.
Die ersten Jahre kam Felix mit seinem Auto, danach mit dem Zug, und zuletzt brachte ihn sein Enkel mit dem Wagen. Sie saß immer schon auf der Bank und blickte ihm freudig entgegen. Beim Abschied pflückte er jedes Mal einen kleinen blühenden Zweig vom Baum und gab ihn ihr, und der Baum hatte nichts dagegen.
In diesem Jahr saß sie nicht auf der Bank, als er ankam. Sein Herz wurde schwer, er setzte sich beunruhigt, sah hinauf zu den Zweigen und bemerkte zum ersten Mal, wie knorrig der alte Baum geworden war. Er trug noch immer Blüten, nur sehr viel weniger. Dann sah er sie kommen, stutzte, ihr Schritt war forsch und flott – sie war es nicht! Eine junge Frau trat heran, setzte sich behutsam neben ihn – die gleichen violetten Augen sahen ihn traurig an: „Großmutter ist vor ein paar Wochen für immer eingeschlafen! Sie nannte mir Tag und Stunde, und nun bin ich hier, ich soll Sie grüßen und Ihnen dies hier geben!“ Und sie legte ihm ein kleines Bündel verblasster, trockener Zweige vorsichtig in die Hände – die gepressten Fliederzweiglein, für jedes Jahr ihrer Treffen eines! Er schloss die Augen in unendlicher Trauer, ließ jedes Beisammensein mit ihr in Zeitlupe an sich vorüberziehen. Die Sonne begann schon unterzugehen, ein leichter Abendwind strich durch die Zweige und plötzlich ließ der Baum seine letzten Blüten auf den alten Mann herniederrieseln; der hörte ganz leise eine Stimme raunen: „Feli, mein lieber Feli“, und er spürte noch einmal den Duft der Blüten ringsumher. Und der Fliederbaum blühte nie wieder.

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#2

RE: Der Fliederbaum

in Romantik 09.03.2013 19:25
von CaroSusi • 79 Beiträge

Ein wunderschöner bittersüßer Text :-) .... sehr romatisch.

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