headerimg
#1

Entstanden nach einem Bild von Edward Hopper

in Ministorys/Fingerübungen 14.02.2013 09:39
von CaroSusi • 79 Beiträge

Der Brief

Der Concierge überreicht mir einen hellblauen Briefumschlag. An den akkuraten Buchstaben erkenne ich Andrews Schrift. Ich ahne das es kein guter Brief ist. Die Ahnung kann ich an keiner bestimmten Tatsache fest machen, aber ich weiß es. Vielleicht liegt es am Wetter, an diesem Tag, an diesem Ort oder daran, dass Andrew mich in letzter Zeit so oft enttäuscht hatte, dass ich unsere Beziehung in Frage ziehe.
Ich gehe ans Fenster hinüber. Einmal durchatmen. Früher oder später muss ich den Brief öffnen, also kann ich es ebenso gut gleich tun. Mit zitternden Fingern reiße ich den Umschlag auf. Das Geräusch des Papiers erinnert mich an das Reißen von Stoffbahnen. Ich hasse zerfetzte Ränder an Briefumschlägen. Ungeschickt fingere ich den Bogen heraus.
„Tut mir leid, Liebling. Musste für zwei Tage
geschäftlich nach Boston. Habe dir einen Scheck
hinterlegt. Amüsier dich. Bis Donnerstag.
Kuss Andrew“

Ich knülle Umschlag und Brief zusammen. Zwei Tage amüsieren. Das ist es was Dean von mir denkt. Ein kleines Weibchen dessen größtes Glück es ist auf Shoppingtour zu gehen. Habe ich mich so verändert? Mich von Dean zu diesem Weibchen machen lassen? Oder kennt er mich einfach nur so wenig? Als wir uns vor einem Jahr kennenlernten, bemühte er sich sehr um mich. Besuchte Musen, Theater, Konzerte mit mir, wanderte mit mir in den Bergen von Nevada und saß stundenlang mit mir am Atlantik um den Wellen zu zusehen. Davon ist nichts übrig geblieben. Alles was zählt ist sein Job, seine Karriere und ich muss mich hinten anstellen.
Ich spüre, wie sich mein Hals zuzieht. Ich bekomme keine Luft mehr. Fasse nach meiner Perlenkette. Deans Verlobungsgeschenk. Ein kräftiger Ruck und sie reißt entzwei. Die harten Muschelkerne springen in alle Richtungen und klirren leise auf dem sandfarbenen Marmorboden. Ich sehe ihnen zu. Habe ihnen die Freiheit gegeben. Man soll keine Perlen verschenken, sie bringen nur Tränen. Ich schlucke meine herunter.
Es ist vorbei. In zwei Tagen werde ich in Paris sein, wie geplant. Ohne Dean. Ich bitte den Concierge den zerknüllten Brief und Deans Flugticket in den Papierkorb zu werfen und meine Rechnung für den nächsten Tag fertig zu machen. Es wird Zeit mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
„Paris ist herrlich im Frühling“, sage ich zu dem Concierge und erwidere sein Lächeln, „hat man mir gesagt.“
Ich werde mich mit eigenen Augen davon überzeugen.

nach oben springen


Besucher
0 Mitglieder und 1 Gast sind Online

Wir begrüßen unser neuestes Mitglied: Hedda Schleicher
Forum Statistiken
Das Forum hat 84 Themen und 134 Beiträge.



Xobor Einfach ein eigenes Xobor Forum erstellen