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Aus meinen Erinnerungen - Wohungen meines Lebens

in Biografien 14.02.2013 09:52
von CaroSusi • 79 Beiträge

Die Schneiderstube liegt nur ein paar Schritte über den Hof. Sie gehört unseren Vermietern, Herrn und Frau Ölkers. Es ist ein kleines Backsteinhaus. Ich sitze brav auf dem durchgesessenen, dunkelroten Samtsofa. Herr Ölkers thront, genauso wie das tapfere Schneiderlein, mit gekreuzten Beinen auf einem großen Holztisch. Dieser steht am Fenster, damit Herr Ölkers auch gut sehen kann und keine falschen Stiche macht. Seine Brille hängt ganz vorne auf der Nasenspitze. Er schaut mehr über deren Rand, als durch die Gläser. Sie wird von einer großen Warze gehalten und verleiht ihm ein märchenhaftes Aussehen. Er erinnert mich irgendwie an Rumpelstilzchen. Ich sehe vor meinem geisteigen Auge, wie Herr Ölkers Stroh zu Gold spinnt oder um das Feuer springt und ruft: „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind... .“
Herr Ölkers ist meistens etwas brummig. Ich habe großen Respekt vor ihm. Er hat eine Tonsur, wie ein Mönch und irgendwie ist es in der Schneiderstube fast wie in einer Einsiedelei. Nur zugelassen für ausgewählte Personen und ich gehöre, stolz wie eine Schneekönigin, dazu. Manchmal schneidet Herr Ölkers auf seinem Tisch die Stoffe zu. Er heftet die Teile einer Jacke oder Hose zusammen, die er dann an der alten Tretnähmaschine zusammen näht. Die rattert und surrt, wie am Schnürchen und meine größte Freude ist es, wenn ich daran sitzen darf und treten kann, dass macht einen Heidenspaß. Das darf nicht jeder. Frau Ölkers hilft ihm in der Nähstube. Wenn sie da ist, darf ich Stoffreste mit Knöpfen verzieren, zusammen nähen oder mit der bunten Schneiderkreide anmalen. Das ist ziemlich schwer, denn sie ist viel stumpfer als Schulkreide. Ich wühle zu gerne in der großen Kiste mit den Knöpfen. Darin kann man richtige Schätze finden.
Frau Ölkers ist eine warmherzige Frau, ich sage Tante zu ihr. Sie ist meine Ersatz Omi und wenn meine Eltern Abends ausgehen, passt sie auf mich auf. Ich darf dann in dem großen Eichenbett mit den riesigen Daunendecken schlafen. Ich versinke darin und nur noch meine Nase kuckt raus. Tante Ölkers nimmt mich dann immer in ihre Arme, ins Nestchen. Ich schlafe so gut und habe gar keine Angst vor der Dunkelheit.

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